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Das Kunstwerk des Monats im LWL

„Rote Kapelle Berlin“ ist das Kunstwerk des Monats Juli 1991 im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster

Von Siegfried Kessemeier

Rote Kapelle - Kunstwerk des Monats im Juli 1991

Sie rückt uns immer ferner und bleibt uns doch nah – da gibt es keinen „Schlußstrich“ und kein Vergessen: auch was vor 50 Jahren geschah, ist noch immer unsere Geschichte. Wo sie uns in besonderen Zeugnissen berührt, ist sie besonders gegenwärtig, etwa in einem Bild wie diesem: „Rote Kapelle Berlin“, gemalt von Carl Baumann 1941.

Als das Karl-Ernst-Osthaus-Museum in Hagen 1989 dem Hagener Künstler Carl Baumann eine Ausstellung widmete, tauchte auch dieses Bild auf – eine überraschende Entdeckung, ein künstlerisches Zeitzeugnis ersten Ranges. Das Westfälische Landesmuseum konnte es erwerben. Es schließt an wichtige „Zeitbilder“ der Sammlung an: Conrad Felixmüllers „Ruhrrevier II“ von 1920 etwa oder Franz Radziwills „Der Streik“ von 1931. Und doch ist hier in ganz anderer Weise ein konkreter historischer Moment berufen – eine personale Annäherung, die betroffen macht.

Carl Baumann, 1912 in Hagen geboren und dort seit Kriegsende lebend und schaffend, hatte in seiner Studienzeit an der Berliner Akademie der bildenden Künste 1936-41 Verbindung zu Menschen, die einer Untergrundorganisation von meist kommunistischen NS-Gegnern angehörten. Sie wurde später von ihren Verfolgern „Rote Kapelle“ genannt. Das war ein weitverzweigtes konspiratives Netz von NS-Gegnern, die ihre Hoffnungen auf eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion setzten. In ihm verbanden sich Widerstandsaktionen und Spionagetätigkeit. Letztere mit dem Ziel, das Ende der Hitler-Diktatur und das Ende des Krieges herbeizuführen. Berlin war nur Teil eines größeren Netzes, geleitet vom „Grand Chef“ Leopold Trepper, das bis Paris, Brüssel, Amsterdam reichte. Köpfe der Berliner Gruppe waren Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack.

Der Maler Carl Baumann kannte nicht den Hintergrund, war nicht eingeweiht, aber er ahnte etwas- und schätzte seine Freunde. So malte er dieses Bild mit Menschen, die ihm nahestanden und Eindruck machten. Daß er eine bedeutsame „memoria“, ein Gedächtnisbild schuf, wußte er damals nicht. Aber daß er sich in Gefahr begeben hatte, war ihm spätestens im Sommer 1942 klar, als Gestapoleute sein Atelier besuchten -und das verräterische Gemälde nicht erkannten. Es überlebte unversehrt in der Akademie. Baumann fand es 1945 wieder.

Ein mittelgroßes Bild, ein Querformat, etwa ein Meter breit und 80 cm hoch. Im Vordergrund drei Männer in Halbfigur- einer frontal in der Mitte, die andern beiden ihm zugewandt. Rechts hinter ihnen am Rande, zurücktretend, eine weitere männliche Gestalt. Alle Blicke sind aus dem Bild gerichtet, jedoch in einer merkwürdigen, konzentrierten Verschlossenheit, die gleichzeitig etwas Entschlossenes hat. Die unterschiedlichen, einprägsamen Physiognomien sind durch Lichtführung und farbliehe Tönung in einer strengen Plastizität herausgearbeitet. Flächiger nur die zurücktretende Figur.

Neben den Köpfen sind es die Arme und Hände, die den Bildaufbau der Figurengruppe bestimmen. Gerade aufgerichtet die mittlere Figur mit verschränkten Armen, in eine dunkle Jacke gekleidet. Eingerahmt ist sie von den beiden hell gekleideten Seitenfiguren, die linke ebenfalls aufrecht, die rechte leicht gebeugt zugewandt. Die Gruppe schließt sich vorn durch die aufgestützten, einander begegnenden Arme und Hände. Die Figur am Rande hält in der erhobenen Linken einen Malpinsel Alle Gestik ist so, daß sie nicht öffnet, sondern verschließt. Dennoch ist ein Miteinander erkennbar, geprägt von einem geheimnisvollen Ernst.

Die feste und durch die hellen Partien doch wieder gemilderte Körperlichkeit hat einen ganz linear strukturierten Hintergrund: das Gittergerüst eines Brückenbauwerks mit Kränen, das abschirmt und hinterfängt und transparent vor einem unwirklichen Grüngrund steht. Einen besonderen Farbakzent setzt nur ein rötliches Mauerwerk rechts.

Die drei Brückenbögen wölben sich jeweils hinter den drei Männern, so daß sie wie in einer Art offenen Nischen erscheinen. Das ist subtil angelegt und hat keineswegs ein unangemessenes Pathos, aber doch eine eigene Hintergründigkeit. Überdies provoziert es Deutungsversuche: die Männer wirken in ihrer Zuordnung wie eine Gruppe von BauIeuten, die Verantwortung haben Architekt, Zeichner, Handwerker. Der proletarische Habitus der mittleren Figur und der intellektuelle der Außenfiguren scheint dem zu entsprechen.

Was wir hier in dem 1941 gemalten Bild vor uns haben, ist ein Werk jener neuen Gegenständlichkeit, die in den dreißiger Jahren die „Neue Sachlichkeit“ ablöste und manchmal Züge aufwies, wie sie dem magischen Realismus eigen waren. Es hat eine eigene malerische Qualität, aber es hat auch noch -darin integriert- die Qualität einer historischen Zeugenschaft. Man weiß, wer hier dargestellt oder gemeint ist. Der später hinzugefügte Titel sagt es, und der Maler bestätigt es.

Es sind drei führende und in besonderem Maße engagierte Mitglieder der „Roten Kapelle“, die 1942/43 nach ihrer Entdeckung und Verurteilung getötet wurden. Der Mann links: Harry Schulze-Boysen, Offizier, erhängt am 22. Dezember 1942. Der Mann rechts: Kurt Schumacher, Bildhauer, erhängt am 22. Dezember 1942. Der Mann in der Mitte: Walter Küchenmeister, Dreher und Redakteur, enthauptet am 13. Mai 1943. Der Mann am Rande: Carl Baumann, Maler, der überlebte und in diesen Kreis über seinen Künstlerfreund Kurt Schumacher gelangt war. Zu ergänzen ist nur noch, daß die Frauen von Schulze-Boysen und Schumacher, Libertas und Elisabeth, am gleichen Tage wie ihre Männer starben. Küchenmeisters Lebensgefährtin, Elfriede Paul, kam davon. Bei ihr, der Ärztin, war ein wichtiger Treffpunkt gewesen. Auch für den Maler Carl Baumann.

Carl Baumann: Selbstbildnis mit Mütze, 1971
Carl Baumann: Selbstbildnis mit Mütze 1971, Linolschnitt, 23×20 cm

Baumann, in Hagen-Wehringhausen als Sohn eines Malermeisters aufgewachsen, begann nach der Lehre im Beruf seines Vaters seine künstlerische Ausbildung 1929-31 an den KölnerWerkschulen bei Johan Thorn Prikker und Richard Riemerschmid. 1936 zog er nach Berlin und studierte hier bis 1941 an der Akademie der bildenden Künste. Seine Lehrer waren der Bildhauer Ludwig Gies (1887 -1966) und der Maler Franz Lenk (1898-1968). 1937 mußte der junge Künstler miterleben, wie sein Lehrer Ludwig Gies von den Nationalsozialisten fristlos entlassen und aus der Preußischen Akademie der Künste ausgestoßen wurde; in der Ausstellung „Entartete Kunst“ war dessen expressiver Holzkruzifixus für den Lübecker Dom aus dem Jahre 1921 als abschreckendes Beispiel angeprangert worden. Sein Lehrer Franz Lenk, bekannt als ein Maler der „Neuen Sachlichkeit“, verließ 1938 ebenfalls die Akademie aus Protest gegen die Verfolgung von Kollegen. Daß diese Erfahrungen die Ablehnung des NS-Systems bei Baumann verstärkten, ist nur zu verständlich. Über Studienkollegen und Künstlerfreunde lernte er engagierte Regime-Gegner kennen, so den Bildhauer Kurt Schumacher, der auch ein Schüler von Ludwig Gies war, und den Redakteur und Schriftsteller Walter Küchenmeister, der wie er aus Westfalen kam. Wie intensiv die illegale Tätigkeit der beiden und ihrer Frauen war, ist erst später offenbar geworden. Ebenso, wie nah Baumann an einem Zentrum des linken Widerstandes in Deutschland war.

1941-42, in der entscheidenden Endphase der „Roten Kapelle“ hatte Baumann, inzwischen Soldat geworden, einen Studienurlaub zur Weiterbildung an der Berliner Akademie. Damals entstand unser Bild. Der Maler kam später wegen seiner verdächtigen Kontakte fünf Monate im Gestapohaft und dann an die Ostfront 1945 kehrte er nach Hagen zurück. Künstlerische Mitgestaltung öffentlicher Bauten wurde bis Ende der 1970er Jahre ein Schwerpunkt seiner Arbeit. Er schuf Wandbilder, Sgraffiti, Mosaiken, Metallreliefs und Glasfenster. Daneben hat er bis heute weiter als Maler und Zeichner gearbeitet. Unter seinen Werken ragen besonders die Bildnisse, vor allem die eindrucksvollen skeptischen Selbstbildnisse, und die Landschaften hervor. Nach wie vor ist die „Rote Kapelle Berlin“ ein Höhepunkt seines Schaffens.

„Rote Kapelle“ – eine Bezeichnung, auch im Titel des Bildes, die zunächst merkwürdig klingt. Sie ist einfach zu erklären: Im Jargon der Geheimdienste versteht man unter einer „Kapelle“ ein Spionagenetz, das von einem „Kapellmeister“, dem Chef, dirigiert wird; ein wichtiger Solist ist der „Pianist“, der Funker. Der Begriff „Rote Kapelle“ stammt, wie schon gesagt, von den Verfolgern. Es ist eine makabre Formulierung. Sachlicher spricht man von ihrem Berliner Teil als der „Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe“; denn sie bestand aus zwei getrennten Organisationen, einer großen, die Widerstand
in Deutschland leistete (u. a. durch Verbreitung kritischer Texte), und einer kleineren geheimdienstliehen mit Funkkontakt zum Ausland, vor allem nach Moskau.

Als die deutsche militärische Abwehr und die Gestapo die Widerstands- und Spionagegruppe Ende August 1942 aufdeckten, war das für die NS-Machthaber und die militärische Führung ein gewaltiger Schock, hatte die Gruppe doch in wichtige Zentren eindringen können (u. a. ins Luftfahrt-, Wirtschafts- und Außenministerium und ins Oberkommando der Wehrmacht) und der überfallenen Sowjetunion für die Kriegführung bedeutsame Informationen zukommen lassen. Die Zerschlagung war entsprechend rigoros: Insgesamt wurden im Reichsgebiet, in Brüssel und Paris etwa 600 Personen verhaftet. In Geheimprozessen vor dem Reichskriegsgericht ab Dezember 1942 wurden Todes- und hohe Freiheitsstrafen verhängt. Zwischen Dezember 1942 und September 1943 folgten 55 bis 58 Hinrichtungen.

Zu der Gruppe, die der Oberleutnant der Luftwaffe Harro Schulze-Boysen und der Oberregierungsrat im Wirtschaftsministerium Dr. Arvid Harnack um sich gesammelt hatten, gehörten nicht nur Kommunisten, sondern NS-Gegner verschiedener Richtungen, auch zahlreiche Künstler, Schriftsteller, Journalisten und Akademiker. Nur ein kleiner Kreis wußte um die Spionagetätigkeit. Die meisten engagierten sich für die Herstellung und Verbreitung illegaler Schriften, verschiedener Flugblätter oder der Untergrundzeitung „Die innere Front“, die sich in fremdsprachigen Ausgaben auch an ausländische Zwangsarbeiter wandte. Unter anderem wurden im Sommer 1941 die Galen-Predigten verbreitet.

Der biographische Hintergrund der auf unserem Bild erscheinenden Personen kann hier nur kurz angesprochen werden. Harro Schulze-Boysen (geb. 1909 in Kiel), aus bürgerlichem Elternhause stammend, war nach einem Jurastudium 1932/33 Redakteur der sozialistischen Monatszeitschrift „Der Gegner“. Er wurde 1933 verhaftet und schwer mißhandelt, ein Freund in seiner Gegenwart erschlagen. Seitdem war er ein entschiedener Gegner des NS-Systems und bereitete
zielstrebig über eine Tätigkeit im militärischen Bereich seinen Untergrundkampf im Zentrum der Macht vor. Der Bildhauer Kurt Schumacher (geb. 1905 in Stuttgart) und der Dreher und Journalist Walter Küchenmeister (geb. 1897 in Waldheim/Sachsen) waren überzeugte Kommunisten und gehörten zum Kern der Gruppe, sie waren eng miteinander befreundet. Mit Küchenmeister führt auch eine Spur nach Westfalen: er lebte und arbeitete in Ahlen und im Ruhrgebiet, wo er Redakteur der Essener KPD-Zeitung „Ruhr-Echo“ war. 1928 zog er mit seiner Familie nach Berlin. 1933 erhielt er Berufsverbot, tuberkulosekrank kehrte er 1934 aus einer neunmonatigen KZ -Haft zurück. Er war ein geistig reger, auch an Kunst und Literatur lebhaft interessierter Mensch, Mitverfasser vieler illegaler Flugblätter der Gruppe. Sein Sohn Rainer (geb. 1926 in Ahlen), den man 1942-45 für seinen Vater in einem Jugend-KZ büßen ließ, wurde nach dem Kriege ein bekannter Künstler.

Unser Bild beruft so eine Vielfalt persönlicher Geschichte und Zeitgeschichte. Es erinnert an ein düsteres und blutiges Kapitel deutscher Vergangenheit, an Menschen, die für ihre Hitler-Gegnerschaft mit dem Leben bezahlten. Zugleich deutet es, aus seiner Zeit verstanden, die Hoffnung auf einen Brückenschlag an, der das Gegenwärtige überwindet.

Die Beurteilung der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe im Rahmen des deutschen Widerstandes gegen Hitler war nach 1945 in Westdeutschland zwiespältig bis negativ. Viele ließen sie wegen des Spionagebezuges zu einer ausländischen Macht, und zudem noch einer kommunistischen, nicht als Teil des deutschen Widerstandes gelten. Der Berliner Kreis der „Roten Kapelle“ wurde häufig in entsprechenden Darstellungen nicht berücksichtigt. So trat er, von Fachleuten abgesehen, im Westen kaum ins historische Bewußtsein. ln der DDR wurde er hingegen aus einsichtigen Gründen außerordentlich positiv gewürdigt, allerdings schwieg man auch hier bis ins Jahr 1967 über seine nachrichtendienstliche Tätigkeit. Das Buch eines französischen Autors, 1967 erstmals erschienen, hat die Aufmerksamkeit wieder auf das Thema gelenkt und zu sachlicherer Betrachtung angeregt: „L’Orchestre rouge“ von Gilles Perrault. In der neuen deutschen Ausgabe von 1990 kann man von ihm den bedenkenswerten Satz lesen: „Der Autor hat keineswegs eine besondere Verehrung für sowjetische Spionageorganisationen, aber er hat Respekt vor dem Mut der Männer und Frauen der Roten Kapelle bekommen, und vor dem schrecklichen Schicksal, das die meisten von ihnen getroffen hat.“

Schon früher hatte der deutsche Historiker Hans Rothfels über die „Rote Kapelle“ geschrieben, „eine summarische Abschüttelung der Männer und Frauen dieses Kreises als bloße Kreml-Agenten und daher nicht zum Bereich der echten Opposition gehörig“ sei fehl am Platze. Und er fügte hinzu: „Mochten ihre Ziele und Mittel von denen der übrigen Gruppen abweichen, Gesinnung und Haltung taten es nicht.“

Literaturhinweise:

Carl Baumann. Zeichnungen und Gemälde. Ausst.Kat. Karl-ErnstOsthaus-Museum, Hagen 1989.

Wieland Schmied: Neue Sachlichkeit und Magischer Realismus in Deutschland 1918-1933. Hannover 1969.

Fritz Schmalenbach: Die Malerei der „Neuen Sachlichkeit“. ln: Das Münster, München, 26. Jg., 1973, H. 3, S. 173-187.

Die Dreißiger Jahre. Schauplatz Deutschland. Ausst.Kat. Haus der Kunst, München 1977.

Luise Kraushaar: Deutsche Widerstandskämpfer 1933-1945. Biographien und Briefe. 2 Bde., Berlin 1970.

Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.): Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime. Ausst.Kat., 2. Aufl., Herford/Bonn 1985.

Ger van Roon: Widerstand im Dritten Reich. Ein Überblick. 4. neubearb. Aufl., München (1987).

Elsa Boysen: Harro Schulze-Boysen. Das Bild eines Freiheitskämpfers. Zusammengestellt nach seinen Briefen, nach Berichten der Eltern und anderen Aufzeichnungen. Düsseldorf (1947).

Karl Heinz Biernat/Luise Kraushaar: Die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation im antifaschistischen Kampf. Berlin 1970.

Elfriede Paul: Ein Sprechzimmer der Roten Kapelle. Berlin 1981.

Heinrich Scheel: Die „Rote Kapelle“ und der 20. Juli 1944. ln: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 33. Jg., 1985, Heft 4, S. 325-337.

Gilles Perrault: Auf den Spuren der Roten Kapelle. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Wien/Zürich 1990.

VEB Deutsche Schallplatten Berlin (Hrsg.): Rote Kapelle. Dokumente aus dem antifaschistischen Widerstand. Zwei Schallplatten mit Begleitheft. Berlin (1987).

Für Unterstützung und Informationen danke ich:
Carl Baumann, Hagen, und Dipl.-lng. Herbert Böhme, Hagen.